Esoterik und/oder Religion
Ella Kögel
Yoga, Astrologie, Meditation – die verschiedensten esoterischen Praktiken sind längst fester Bestandteil unseres Alltags. Doch so allgegenwärtig der Begriff der Esoterik ist, so unklar ist gleichzeitig, was eigentlich damit gemeint ist. Auf der Suche nach einer klaren Definition stößt man meistens auf eine Erklärung der Wortbedeutung: Esoterik kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet in etwa „innerlich“ oder dem „inneren Bereich zugehörig“.
Von der Begriffsbestimmung abgesehen, variieren die Definitionsversuche mitunter stark. Kurz gesagt: Es gibt keine eindeutige Definition von Esoterik, weder im wissenschaftlichen, noch im volkstümlichen Sinn. Aus der Vielfalt von Definitionen kann jedoch herauskristallisiert werden, dass es bei Esoterik um ein weites Feld an Praktiken und Weltanschauungen geht, die sich um Fragen der spirituellen Entwicklung drehen und dabei als Alternative zur Religion erscheinen. Um die Bedeutung von Esoterik noch etwas genauer zu verstehen, lohnt es sich, sie mit den oft im selben Kontext verwendeten Begriffen der Religion und der neuen Spiritualität zu vergleichen.

Das Selbst im Fokus
Esoterik und neue Spiritualität sind nicht klar voneinander abzugrenzen. Die Zuordnung bestimmter Praktiken und Denkweisen zu einem der beiden Bereiche erfolgt von Person zu Person unterschiedlich. Grundsätzlich kann jedoch gesagt werden, dass Spiritualität, wie der Name schon sagt, auf einen Bezug zum eigenen Geist und dessen Transformation anspielt, während Esoterik stärker handlungsbezogen, beziehungsweise auf konkrete Gegenstände fokussiert ist. Die Abgrenzung zur Religion ist da schon einfacher. So unterscheiden sich Esoterik und Religion in drei grundlegenden Punkten.

Ein entscheidender Unterschied ist, dass Esoterik, anders als Religion, keinen festen dogmatischen Kern hat. Sie ist somit gewissermaßen flexibler und kann je nach persönlichen Bedürfnissen angepasst werden.
Die Flexibilität der Esoterik spiegelt sich auch im zweiten Unterscheidungsmerkmal, der Fokussierung auf das Selbst, wieder. Das bedeutet einerseits, dass das Zentrum esoterischen Handelns das Individuum selbst ist, und andererseits auch, dass das esoterisch aktive Individuum frei aus der Vielfalt an esoterischen Weltanschauungen und Praktiken wählen und kombinieren kann. Die höchste Autorität in der Esoterik ist das Individuum selbst. Dieser zweite Punkt erklärt auch, warum es keine einheitliche Definition von Esoterik gibt, denn sie hängt stark von der individuellen Auslegung einzelner Personen ab.
Der dritte wichtige Unterschied zwischen Esoterik und Religion ist, dass es in der Esoterik kein transzendentes Gegenüber gibt, so wie es in der Religion durch die Figur eines Gottes gegeben ist. In der Folge übernimmt in der Esoterik das Selbst diese Position.

Von der Entzauberung der Welt
Doch das Verhältnis von Esoterik und Religion ist nicht nur durch Unterschiede geprägt. Denn beide Konzepte haben dieselbe Funktion: Sie stellen sowohl Handlungsgrundlage als auch rituelle Begleitung des Alltags zur Verfügung und sie antworten auf Fragen wie „Was soll ich tun?“ und „Wie soll ich leben?“ Wie kommt es aber, dass Religion für immer mehr Menschen und in immer mehr Lebensbereichen durch Esoterik als Handlungsgrundlage ersetzt wird, obwohl beide im Grunde die gleiche Rolle übernehmen - nämlich Struktur, Entscheidungshilfe, Sinn und Rituale zu spenden?
An dieser Stelle lohnt sich ein kurzer Blick auf die Theorie des Soziologen Max Weber, die beschreibt, dass westliche Gesellschaften in der Moderne eine Entzauberung erlebt hätten. Damit meint der Wissenschaftler, dass durch die Ausbreitung von Wissenschaftlichkeit und Rationalität in allen Lebensbereiche der falsche Eindruck darüber entstanden sei, dass die Phänomene des Lebens berechenbar und voraussagbar seien. Weber formuliert das so: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran, dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“

Im Widerspruch vereint
Die Moderne ist geprägt davon, dass Wissenschaft an die Stelle von Religion als Handlungsgrundlage getreten ist. Dabei kreiert die Wissenschaft die Illusion, alles erklären zu können und täuscht somit über die Tatsache hinweg, dass sie auf Fragen nach dem Was und dem Wie menschlichen Handelns keine Antwort weiß. Warum aber gehen wir nicht einfach einen Schritt zurück, kehren die Entzauberung wieder um und machen Religion statt Wissenschaft wieder zur Basis unseres Handelns? Oder anders gesagt: Warum holen wir die Mystik, das Geheimnisvolle, das Unerklärliche oft in Form von Esoterik und nicht in Form von Religion zurück in unser Leben?
Auch dafür hat Weber eine Erklärung: Weil wir nicht zum „Opfer des Intellekts“, das heißt zum bewussten Verzicht auf das Eigendenken, fähig sind. Und hierin liegt vielleicht auch der Erfolgsgrund von Esoterik: denn sie hat keinen unveränderlich dogmatischen Kern, und erfordert daher das Eigendenken von esoterischen Individuen. Esoterische Weltanschauungen sind flexibel und anpassungsfähig, und sie können nach Gutdünken mit nicht-esoterischen Elementen kombiniert werden. Wissenschaft und Esoterik stehen sich gegenseitig nicht im Weg und somit kann Esoterik mit dem Konzept des (wissenschaftlichen) uneingeschränkten Fortschritts, der in der heutigen Gesellschaft eine zentrale Rolle einnimmt, parallel funktionieren.
Doch nicht nur wegen ihrer Kompatibilität mit Wissenschaft und somit auch mit Fortschrittsdenken ist die Esoterik bestens zur Anwendung innerhalb der modernen Gesellschaft geeignet. Die Konzentration auf das Selbst, die wichtiger Bestandteil esoterischer Praktiken ist, geht Hand in Hand mit dem Individualismus, der heute zur am weitesten verbreiteten Gesellschaftsform geworden ist.
Quellen
Hettlage, Robert / Bellebaum Alfred: Religion. Spurensuche im Alltag. Wiesbaden: Springer VS 2016.
Weber, Max: Wissenschaft als Beruf. 11. Auflage. Berlin: Duncker & Humblot 2011.
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